Der Adlerhof – eine Chronik

So ein großer und ehrwürdiger Hof hat natürlich auch eine bewegte Vergangenheit. Die Kinderbuchautorin Uli Leistenschneider hat einige Zeit auf dem Hof gewohnt und währenddessen fleißig in den Archiven recherchiert, alte Unterlagen der Vorbesitzer studiert und Gespräche mit einige Anwohnern geführt. Das Hauptgebäude wurde im Jahr 1896 vom Großgrundbesitzer und Ziegelei-Inhaber Lorenz Bernhard als Weingut erbaut, bis die letzte Verwandte Edith Beiser 1992 im hohen Alter auszog und den Familiensitz abgab. Seit 2016 hat Natascha Popp das Anwesen übernommen und wieder zu neuem Leben erweckt.

Hier ein Auszug aus der Chronik…

 

„Herzlich Willkommen auf dem Adlerhof!

Herzlich willkommen! Sie befinden sich in Rheinhessen. Nein, nicht in Hessen, sondern direkt daneben, südlich des Rheins auf einem Gebiet von ca. 1.400 km2, zwischen Mainz und Worms. Rheinhessen heißt die rheinland-pfälzische Region, weil sie bis 1945 zum Großherzogtum Hessen bzw. dem Volksstaat Hessen gehörte.

Ein wenig genauer gesagt, befinden Sie sich in St. Johann, einer kleinen Ortsgemeinde mit etwas mehr als 850 Einwohnern, ca. 20 km südwestlich von Mainz, und noch genauer gesagt, verweilen Sie in diesem Moment in der Hindenburgstraße 32, auf dem Adlerhof. Eventuell sind sie wirklich anwesend und sitzen gerade im geräumigen Wohnzimmer auf dem Sofa oder an einem der lauschigen Plätze im Hof oder Garten oder dem hübschen kleinen Café … oder, oder. Es gibt viele schöne Orte auf dem Adlerhof und in St. Johann. Kommen Sie doch mal vorbei, falls Sie das nicht sowieso in (un)regelmäßigen Abständen tun.

Jetzt möchte ich Sie erst einmal einladen, mir gedanklich zu folgen. Kommen Sie mit auf eine imaginäre Reise anhand der historischen Fakten, die ich finden konnte bzw. erzählt bekommen habe. Lehnen Sie sich entspannt zurück. Vielleicht bei einem guten Glas Wein, denn Wein spielte auf dem Adlerhof seit jeher eine große Rolle. Erinnern Sie sich noch, wann Sie zum ersten Mal vom Adlerhof erfahren haben?

Wie es zur Chronik kam

Als ich das erste Mal vom Adlerhof erfahren habe, wohnte ich noch in Stuttgart. Ich hatte gerade meinen Job gekündigt, hatte genug von der Großstadt und war voller Sehnsucht nach Weite, Landluft und Heimat. Außerdem war ich gerade dabei, mich als Kinderbuch-Autorin selbständig zu machen und hatte etwas Panik, dass mir die Decke auf den Kopf fallen würde, wenn ich den ganzen Tag allein in meiner Stadtwohnung Bücher schreiben sollte. Also gab ich bei Google „WG auf dem Land“ ein. Neben einem hübschen Reetdach-Haus bei Flensburg kam der Adlerhof. Lustigerweise nur 15 Minuten von meinem Elternhaus in Bingen-Sponsheim entfernt. Das war es! Da ich ein Bauchmensch bin, spürte ich irgendwie sofort, dass ich dort einziehen würde.

Wenige Tage später lernte ich Natascha und einen Teil ihrer Freunde (die alle nicht auf dem Adlerhof wohnen, aber sehr gerne zu Besuch kommen) bei einem netten Grillabend kennen. Mir ging es so, wie es vermutlich fast jedem geht, der zum ersten Mal den Adlerhof betritt: Ich war geplättet. Alles war noch größer und schöner als auf den Fotos im Internet. Oft genug ist es ja umgekehrt, und wenn ich ehrlich war, hatte ich es auch so erwartet; ich dachte an eine eher alternative WG, wo alles ein Stück weit heruntergekommen ist. Doch alles war schick und gemütlich, Landhaus-Stil mit Stil, ein Mix aus alt und neu, es wirkte perfekt, obwohl an vielen Ecken noch einiges zu tun war. Natascha hatte große Pläne mit ihrem Besitz. Hinten sollte noch ein weitläufiger Garten angelegt, nebenan Büroräume für ihr Unternehmen geschaffen werden und einen kleinen Laden mit einem Café wollte sie auch irgendwann eröffnen.

An jenem Abend führte Natascha mich durch die Räume des Adlerhofs und im letzten Zimmer des ersten Stocks, dem sogenannten „Tantenzimmer“, wusste ich: Hier kann ich leben und schreiben. Ein toller Blick auf die Hügel und Felder, die zum Wißberg führen, gab mir genau die Weite, die ich mir wünschte. Der Adlerhof würde eine wunderbare Zwischenstation in meinem Leben werden.

„Dann herzlich Willkommen“, sagte Natascha noch am selben Abend zu mir und das Ganze wurde mit einem Glas Weißwein besiegelt.

Knapp eineinhalb Jahre später hatte ich mich gut in der WG eingelebt. Es gab regelmäßige WG-Kochabende, an denen vor allem die ständigen Mitglieder Gitte, Klaus und Patricia, Natascha und ich teilnahmen, zeitweise auch Nataschas Bruder Joni, ihre Mutter Sabine, ihr Cousin Jonas und andere Besucher.

Eines Abends kam Natascha in mein Zimmer und meinte, sie hätte einen Auftrag für mich. Unsere Nachbarin Frau Märthesheimer (die selbst einmal viele Jahre auf dem Adlerhof gewohnt hatte) habe ihr so viel aus der Vergangenheit des Hofes erzählt. Nun verspürte Natascha den Wunsch, alles aufzuschreiben bzw. aufschreiben zu lassen. „Und wer könnte das besser, als eine Kinderbuch-Autorin, die hier lebt?“, meinte sie.

Ich fühlte mich geehrt und war gleichzeitig skeptisch. Das Haus war fast 125 Jahre alt. Würde man Konkretes herausfinden können?

Es gab Treffen mit Frau Märthesheimer, Frau Reiff, Michaela Gabelmann und ihrem Bruder Sebastian Gabelmann, der dankenswerterweise aus dem Nachlass von Edith Beiser alte Fotos beisteuern konnte.  Auch die Einblicke in die Kirchenbücher von St. Johann, die mir freundlicherweise Pfarrer Eric Kalbhenn gewährt hatte, gaben interessante Aufschlüsse. Ich habe die Geschichtsblätter vom Heimatverein St. Johann gelesen und mir viel von früher erzählen lassen.

Wenn Steine reden könnten, hätten sie sicher eine Menge vom Adlerhof zu berichten. Manchmal fragten wir uns, wen Cassie, Nataschas kleine Münsterländer-Hündin, wohl sieht, wenn sie spät abends eine Ecke im Adlerhof anbellt. Bei den vielen Personen, die schon auf dem Hof gelebt hatten, waren wir uns nicht so sicher, ob nicht die ein oder andere manchmal noch herumspukte.

Leider können Steine nicht reden und so wird wohl nie jemand erfahren, wie die Anfänge des Adlerhofs wirklich waren. Trotzdem möchte ich es versuchen und Sie auf eine Reise in die Vergangenheit mitnehmen. Damals, als der Adlerhof noch gar nicht Adlerhof hieß … 

Familie Beiser 1896 – 1963

St. Johann war im Jahr 1860 eine selbständige Gemeinde geworden, was eine rege Bautätigkeit nach sich zog. Bereits in den 1840er Jahren war eine breite Staatsstraße angelegt worden, welche die ursprüngliche Obergasse als Hauptstraße ablöste. Nach und nach entstanden in dieser Hauptstraße um die Jahrhundertwende einige der Häuser und Höfe, die auch heute noch erhalten sind, u.a. das Haus Nummer 42 von Ludwig Koch, das als das älteste erhaltene Haus in St. Johann gilt. In den 1920er Jahren wurde die Straße nach dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg benannt, dessen Berühmtheit ab 1914 in dem traurigen Ereignis vom 30. Januar 1933 gipfelte, als er Hitler zum Reichskanzler ernannte.

Doch zurück ins Jahr 1896. Es ist das Baujahr des Adlerhofs, so steht es zumindest außen am Haus. St. Johann hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einige Laternen, die mit Erdöl gespeist und von einem Lampenwärter angezündet und ausgelöscht werden mussten. Außerdem war ab 1894 die Wasserversorgung durch ein Wasserleitungsnetz von der Quelle am Kisselberg gewährleistet. Die Bürger mussten nicht mehr am ortseigenen Johannisbrunnen oder aus privaten Hausbrunnen ihr Wasser holen. Ab 1897 kam dann auch die erste Telefonleitung hinzu. Beachtliche Teile in Land in St. Johann gehörten Lorenz Bernhard (*23.01.1845 †18.10.1908). Vermutlich hatte er sie in langer Familientradition geerbt. Auf der Familiengrabstätte des St. Johanner Friedhofs finden sich einige Bernhard-Gräber, woraus zu schließen ist, dass die Bernhardschen Vorfahren eine feste Größe in St. Johann waren. Zu dem heutigen Grundstück gehörten Ländereien, die das gesamte Neubaugebiet umfassten. Zudem besaß Lorenz Bernhard eine Ziegelei am Ortseingang von Sprendlingen (von St. Johann kommend), die zur damaligen Zeit sehr gut lief. Er schien einigen Einfluss zu haben. So konnte er schon 1879 mitbewirken, dass der Friedhof, der sich auf dem heutigen Basketballplatz neben dem Adlerhof befand, aus dem Ort hinausverlegt wurde, denn er wollte nicht, dass seine Grundstücke quasi den Friedhof umrahmten. Wie in vielen Dörfern befand sich der Friedhof ganz ursprünglich direkt bei der Kirche. Bereits 1836 wurde er an den Ortsrand verlegt. Die Kastanien wurden gepflanzt, die heute ein Naturdenkmal darstellen. Doch im Zuge des Ortswachstums sollte es nicht bei dieser Stelle bleiben. 1896, als die Gebäude des Adlerhofs fertiggestellt und einzugsbereit waren, lag der Friedhof bereits an der Stelle, an der wir ihn auch heute noch finden. Die Gräber der Familien Bernhard, Beiser und Knell können noch immer besichtigt werden. Sie sind separat umzäunt und bilden mit ihren teils imposanten Grabsteinen ein sehenswertes Grabmal.

Am 6. Mai 1912 wurde damit begonnen, die „Elektrisch“, wie die elektrische Straßenbahn genannt wurde, zu verlegen. Bis dahin ging man zu Fuß, ritt zu Pferd oder fuhr mit der Kutsche. Am 20. Dezember 1912 fuhr dann zum ersten Mal die elektrische Bahn von Bad Kreuznach über Sprendlingen bis nach St. Johann. Die Fahrt dauerte eine knappe Stunde und kostete 50 Pfennig. Allerdings endete sie am Ortseingang von St. Johann, da sich u.a. Friedrich Beiser dagegen ausgesprochen hatte, dass sie bis nach Wolfsheim weiterging. Er wollte nicht mit dem Lärm der Elektrischen vor seinem Haus belästigt werden….“

… als eines der nächsten Projekte soll die Chronik auch als Buch gedruckt werden und wird dann auch im WeinCafé zu kaufen sein.